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Im Reich des schlafenden Riesen

Im Reich des schlafenden Riesen

21.02.16 13:57 26.183Text: gpearl
Georg Pfarl
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Fotos: gpearl
Rennradfahren in der Provence kommt dem sprichwörtlichen "Leben wie Gott in Frankreich" sehr nahe. Es sei denn, eine Regenfront zieht auf - speziell am mythenumrankten Mont Ventoux ...21.02.16 13:57 26.230

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21.02.16 13:57 26.23015 Kommentare gpearl
Georg Pfarl
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gpearl
Rennradfahren in der Provence kommt dem sprichwörtlichen "Leben wie Gott in Frankreich" sehr nahe. Es sei denn, eine Regenfront zieht auf - speziell am mythenumrankten Mont Ventoux ...21.02.16 13:57 26.230

Erstmals tauchte der Mont Ventoux auf meinem Radar auf, als ich William Fotherings Buch „Put me back on my bike: in search of Tom Simpson“ las, die Biographie des berühmten britischen Rennradfahrers, dessen Leben so dramatisch an der Südflanke des Berges endete. Die Geschichte weist sämtliche Zutaten eines tragischen Heldenepos auf und hinterließ einen tiefen Eindruck bei mir. Irgendwann wollte ich auf dem Gipfel dieses schicksalshaften Berges stehen.

Auch den italienischen Dichter Petrarca hatte der Ventoux in seinen Bann gezogen. Jenen 26. April 1336, als er seinen Traum wahr machte und ihn bezwang, bezeichnet man als die Geburtsstunde des Alpinismus. „Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht unverdientermaßen Ventosus, den Windigen, nennt, habe ich am heutigen Tage bestiegen. Dabei trieb mich einzig die Begierde, die ungewöhnliche Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein kennenzulernen. Viele Jahre lang hatte dieses Unternehmen mir im Sinne gelegen; habe ich doch in der hiesigen Gegend, wie du weißt, seit meiner Kindheit geweilt, wie eben das Schicksal die menschlichen Dinge fügt. Dieser Berg aber, der von allen Seiten weithin sichtbar ist, steht mir fast immer vor Augen.“

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Der Mont Ventoux thront alleinstehend mit seinen 1.912 Metern hoch über den Ebenen der Provence im Departement Vaucluse. Seine Beinamen "Der kahle Riese" und "Der Windige" rühren von seinem vegetationslosen Gipfel aus Kalkgestein, über den an manchen Tagen der Wind mit Spitzen von bis zu 320 km/h hinwegfegt.
Seit die Tour de France 1951 erstmals über den mörderischen Berg - jedes Jahr sterben dort 10 bis 20 Radfahrer durch Erschöpfung oder Stürze - führte, war er fünfzehn Mal Teil oder Ziel einer Etappe. Über die Jahrzehnte ist der Mont Ventoux zu einem Mythos geworden, der wohl auf der To-Do-Liste jedes ambitionierten Radsportlers steht.

Die Tour und der Ventoux

Gemeinsam mit dem Col du Galibier, dem Col du Tourmalet und Alpe d'Huez ist der Ventoux einer der Heiligen Berge der Tour. Üblicherweise nimmt die Grande Boucle den südwestlichen Anstieg vom Dörfchen Bédoin, welcher mit einem Höhenunterschied von 1.607 Metern auf 21 Kilometern und einer Steigung von 7,6% (hors catégorie) als der Härteste angesehen wird. Die französische Rennradlegende Charly Gaul erreichte 1958 mit der ersten aufgezeichneten Zeit von 1 Stunde 2 Minuten den Gipfel. Die bis dato schnellste Bezwingung gelang 2004 dem spanischen Kletterspezialisten Iban Mayo mit unglaublichen 55 Minuten.

Anmk. d. Red.: Ein denkwürdiger Ventoux-Moment mit Helden von früher - vermutlich chancengleich ...

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Die Landschaft, die dem Ventoux zu Füßen liegt, könnte gegensätzlicher als der sie beherrschende, karge Berg nicht sein. Über sanft geschwungene Ebenen erstrecken sich leuchtende Lavendelfelder, Olivenhaine und üppige Weingärten, so weit das Auge reicht. Hindurch mäandern einsame Landstraßen, gesäumt von alten Natursteinmauern und Zypressen, aus denen wie ein wehmütiger Gesang das Zirpen der Zikaden klingt. Dazwischen erheben sich Hügelkuppen mit den typischen provencalischen Dörfern: schindelgedeckte Häuser aus warm leuchtendem Sandstein mit bunten Fensterläden, ein Marktplatz mit kleinen Cafés und gemütlichen Bistros, in der Mitte unter Platanen ein fröhlich plätschernder Brunnen.
Wer hierher kommt, um Rekorde zu brechen, der wird ganz von selbst entschleunigt, vergisst den Kampf gegen den Tacho und reiht sich in den langsamen Fluss der Zeit ein, die hier gemächlicher zu vergehen scheint als anderswo.

Aber ganz so, als wär’s dem lieben Gott bei der Erschaffung dieses lieblichen Paradieses dann doch zu viel der Harmonie gewesen, zerreißt eine tiefe Felsspalte wie eine grässliche Wunde die friedliche Landschaft: der Grand Canyon du Verdon erstreckt sich über 40 Kilometer Länge von der Stadt Castellane bis zum Stausee Lac de Sainte-Croix und ist die wohl großartigste Schlucht Europas.

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 Die tiefe Felsspalte zerreißt wie eine grässliche Wunde die friedliche Landschaft. 

Auf ihrem Grund schillert in unwirklichem Smaragdgrün der Verdon, der hier seit der letzten Eiszeit auf seinem Weg bis zur Mündung in die Durance das weiche Kalkgestein der Korallenbänke 700 Meter tief ausgespült hat. Die Flanken der Schlucht sind bis zu 1.500 Meter voneinander entfernt, am Grund sind es stellenweise nur 6 Meter. Hier unten tummeln sich im Sommer wie bunte Blätter im Wasser die Kayaks, während im festen Gestein der himmelhohen Flanken die Kletterer der Schwerkraft trotzen. Beobachten lässt sich dieses Naturschauspiel und das ameisengleiche Treiben der Menschen darin am besten von den Panoramastraßen auf beiden Seiten der Schlucht, die natürlich für Rennradfahrer ein besonderes Amuse-gueule sind.

Apropos: Letzteres kommt in der Provence natürlich auch nicht zu kurz. Die provencalische Küche unterscheidet sich von der schweren französischen und ist stark von mediterranen Einflüssen geprägt. Sonnengereifte Tomaten, Olivenöl und die typischen Herbes de Provence - Salbei, Rosmarin, Majoran, Oregano und Thymian - bilden die Grundlage vieler herrlicher Gerichte, wie Bouillabaisse oder Ratatouille. Mehr als genug Gründe also für eine Radreise in diesen herrlichen Landstrich!

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Aufwärmen

Der kürzeste Weg dorthin führt mit dem Flieger über Nizza, von wo es mit dem Auto noch ca. 100 Kilometer sind - zunächst auf der Autobahn entlang der Küste nach Südwesten, dann über kleine, gewundene Sträßchen, bis zu unserem Ziel: dem Dörfchen Tourtour im Herzen der Region Provence-Alpes-Côte d'Azur im Département Var.
Tourtour thront malerisch auf einem Hügel mit weitem Rundblick über die provencalische Landschaft und schmückt sich zu Recht mit dem Beinamen "Le village dans le ciel". Der erste Morgen begrüßte uns frisch mit herrlich klarer Luft auf der Terrasse der Petite Auberge, einem entzückenden Hotel ganz im Stil der Provence. Nach dem Frühstück mit Café au lait und Baguette bauten wir die Räder zusammen und machten uns gegen Mittag auf zu unserer ersten Tour.

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Ausgangspunkt war Moissac-Bellevue, ein Dorf unweit von Tourtour und ganz ähnlich malerisch auf einem Hügel gelegen, mit engen Gässchen, Sandsteinhäusern, kleinen Bistros, einem Hauptplatz mit Kirche und Springbrunnen. Zunächst ging es angenehm bergab, durch duftende Pinienwälder und Olivenhaine. Nach knapp 20 Kilometern erreichten wir in Quinson, einer kleinen, durch den Verdon geteilten Ortschaft, den tiefsten Punkt der Tour und arbeiteten uns über sehr moderate Steigungen wieder auf das Hochplateau, wo uns Rückenwind mühelos nach Norden trug.

Die kaum befahrenen Straßen säumten wogende Getreide- und Lavendelfelder, die von leuchtend roten Mohnblumen eingefasst wurden. Tief stehende Wolken verliehen der Landschaft eine unwirkliche Weite bis hin zum Mont Ventoux, der fern im Westen am Horizont einsam alles überragte.
Eine Serpentinenstraße schlängelte sich hinab zum Lac de Sainte-Croix. Die Abfahrt zwischen gelben Ginsterbüschen, durch die immer wieder das Blau des Sees durchblitzte, war ein Hochgenuss. Auf der Gegenseite schraubten wir uns erneut auf das Plateau, wo ein Schaltungsdefekt einen guten Vorwand lieferte, bei Café und Tarte au citron Rast zu halten. So gestärkt, erreichten wir auch rasch unser schönes Dorf im Himmel wieder.

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Am nächsten Tag näherten wir uns von Süden dem Grand Canyon du Verdon. Beim Lac de Sainte-Croix folgten wir diesmal der scharf nach Osten abzweigenden Corniche Sublime, der südlichen Panoramastraße, die zunächst mit einer scharfen Steigung von bis zu 12% hoch über den See und das darüber thronende Schloss Aiguines, danach in zahlreichen Serpentinen auf einer kühn in den Fels gehauenen Trasse an der südlichen Begrenzung der Schlucht empor führte.
Am höchsten Punkt der Tour, dem Cirque de Vaumale (1.201m), bot sich ein schwindelerregender Tiefblick bis zum Grund der Schlucht, wo das türkise Band des Verdon, von den Strahlen der Mittagssonne beleuchtet, zu fluoreszieren schien. Vom Allerfeinsten war die nun folgende Abfahrt, stets mit grandiosem Tiefblick zur Linken, durch Tunnel und Galerien, bis zur Pont sur l’Artuby, einer bei Bungee-Jumpern beliebten Brücke über die Schlucht. Nach einem kurzen Gegenanstieg ließen wir den Canyon hinter uns und rauschten genussvoll über eine 20 Kilometer lange Abfahrt einem Café- und Tarte-aux-fraises-Stopp im Dörfchen Ampus entgegen, von wo es auch nicht mehr weit heim nach Tourtour war.

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 Vom Allerfeinsten war die Abfahrt, stets mit grandiosem Tiefblick zur Linken, durch Tunnel und Galerien.  

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Aktive Regeneration

Um die Beine für die Bergetappe am Mont Ventoux locker zu machen, planten wir für den Tag davor eine Wanderung auf die höchsten Klippen Frankreichs ein. Südlich des Hafenstädtchens Cassis, beim Cap Canaille brandet das Meer an eine wilde Küstenlandschaft. Ein steiniger Kammweg führte uns schwindelerregend am Rand des Abgrundes entlang bis zur Grande Tête, wo die Klippen lotrecht fast 400 Meter in die Tiefe fallen und uns eine wunderbare Aussicht über die Bucht von Cassis und die Küste bis Marseilles eröffneten. Den Hunger, den die Meeresluft hatte aufkommen lassen, stillten wir im Hafen von Cassis mit Muscheln und Fisch.

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Höhepunkt

Für die Bezwingung des Mont Ventoux wählten wir den klassischen Anstieg von Bédoin, was etwa 200 Kilometer mühsame Anfahrt mit dem Auto über kleine Straßen bedeutete. Als der Berg schließlich am Horizont sichtbar wurde, war ich enttäuscht. In meiner Vorstellung hatte das "Biest der Provence" himalayagleiche Proportionen erreicht. Stattdessen erschien mir der vielbeschworene Gigant nun eher wie ein sanfter Hügel, der friedlich in den umgebenden Weingärten wie ein schlafender Riese lag.
Wir stellten den Wagen am Rande Bédoins auf einem großen Schotterparkplatz ab, wo bereits weitere Ventoux-Aspiranten ihre Ausrüstung fertig machten. Bald hatten auch wir uns in den Strom der Pilger eingereiht, die ostwärts aus Bédoin pedalierten und der kleinen Straße an der Südseite des Berghanges durch Weingärten folgten, immer wieder den Blick nach links empor, zum Sendemast auf dem Gipfel, richtend.

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Im Dörfchen Saint Estève markierte eine scharfe Linkskurve den Beginn des Anstieges. Bis dahin hatte die Straße nur leicht bergan geführt, was sich jetzt schlagartig mit einer Steigung von bis zu 10% änderte.
Wir ließen die Weingärten und Olivenhaine hinter uns und drangen in die schattigen Pinienwälder ein, welche die kahle Glatze des Berges wie ein Haarkranz umgibt. Der Asphalt war ab hier mit den Namen derjenigen beschrieben, die sich bei der Tour de France hinaufgekämpft hatten, manche schon vergessen und verblichen, andere erst frisch gepinselt. Ab und zu sauste ein entgegenkommender Radler vorbei und gab einen Vorgeschmack auf den Genuss, 1.600 Höhenmeter am Stück abzufahren.
Aus dem wolkenlosen Himmel brannte die Sonne erbarmungslos auf uns herab und ich fragte mich, wozu ich die Ärmlinge eingesteckt hatte. Am Straßenrand informierten die typischen weiß-gelben D974-Meilensteine über Höhe, Steigung und Distanz bis zum Gipfel. Einen nach dem anderen überholten wir andere Radler, von denen manche schon sichtbar mit ihrer selbstauferlegten Mühsal kämpften. Uns erschien es wie ein Anstieg wie viele andere und keine allzu große Herausforderung.

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Nach 1 Stunde 20 Minuten und 16 Kilometern erreichten wir das Chalet Reynard auf 1.440 Metern Höhe. Mittlerweile waren dunkle Wolken aufgezogen und bald platschten die ersten großen Regentropfen auf den heißen Asphalt. Wir waren nun über der Baumgrenze und der öde, felsige Gipfel war für die verbleibenden 6 Kilometer zumeist direkt vor uns sichtbar. Die Steigung war etwas zurückgegangen, dafür war die Temperatur empfindlich gesunken und der aufkommende Wind ließ uns Ärmlinge und Westen anlegen. Unser nächstes Zwischenziel war der Simpson-Genkstein einen Kilometer östlich des Gipfels.
Vom Chalet drehte die von Schneestangen gesäumte Straße nach Westen und wand sich durch die Steinwüste bergan. Jenseits davon lag tief unter uns die sonnenbeschienene Ebene, die im Kontrast zum bedrohlich dunklen Himmel fast unwirklich leuchtete. Nach einer halben Stunde kam der Granitstein der Gedenkstätte am rechten Straßenrand in Sicht. Er markiert jene Stelle, an der Tom Simpson an einem brutal heißen Tag der Tour de France von 1967 sein Schicksal ereilte.

Put me back on my bike

Die 13. Etappe hatte am Morgen des 13. Juli in Marseille gestartet, sollte über den Mont Ventoux führen und nach 211 Kilometern in Carpentras enden. Als das Rennen die unteren Hänge des Ventoux erreichte, wurde Simpson, der die Tage zuvor bereits an Durchfall gelitten hatte, dabei beobachtet, wie er Pillen mit Brandy hinunterspülte. Als sich das Rennen dem Gipfel näherte, begann das Feld auseinanderzubrechen. Simpson befand sich in der Spitzengruppe, bevor er in eine Verfolgergruppe mit etwa einer Minute Rückstand zurückfiel. Hier begann er die Kontrolle über sein Rad zu verlieren und im Zickzack weiterzufahren. Eineinhalb Kilometer vor dem Gipfel fiel er schließlich vom Rad. Sein Team-Manager und ein Mechaniker halfen ihm zurück in den Sattel und schoben ihn an. Simpsons letzte Worte waren "On, on, on!". Der berühmten Satz "Put me back on my bike!" wurde erst später von einem Journalisten erfunden.
Simpson fuhr noch weitere 500 Meter, bevor er erneut strauchelte und von drei Zusehern aufrecht gehalten wurde. Zu diesem Zeitpunkt war er bewusstlos, hielt sich aber noch krampfhaft am Lenker fest. Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos und ein Polizeihubschrauber brachte seinen leblosen Körper in ein Spital in Avignon, wo er für tot erklärt wurde. Zwei leere und ein halb volles Röhrchen mit Amphetaminen wurden in den Taschen seines Trikots gefunden.

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Nachdem wir die obligatorischen Fotos auf den Stufen des mit zahllosen, als Ehrenbezeugung zurückgelassene Trinkflaschen übersäten Gedenksteins gemacht hatten, stiegen wir wieder in die Pedale, begierig, endlich den zum Greifen nahen Gipfel zu erreichen. Denn mittlerweile hatte das Wetter endgültig umgeschlagen und ein stürmischer Wind blies uns den Regen ins Gesicht. Es war, als habe der schlafende Riese unser ungebührliches Ansinnen, ihm auf's Haupt zu fahren, bemerkt, und mache sich nun daran, uns abzuschütteln.
Unbeirrbar attackierten wir zehn Minuten später die letzte Rampe und waren nach einer finalen Haarnadelkurve ganz oben auf 1.902 Meter. Ich hatte mir diesen Moment oft vorgestellt und - wie so oft - war die Realität ganz anders. Der Gipfel wird von einem riesigen Sendemast dominiert, ein heruntergekommenes Gebäude mit abblätternder grauer Farbe. Darunter erstreckt sich ein großer Parkplatz, auf dem ein ständiges Kommen und Gehen von Autos und Motorrädern herrscht.
So wie viele andere Radfahrer suchten wir in einem kleinen Souvenirshop Zuflucht vor dem Regen und der Kälte, wo wir, eingezwängt zwischen Ansichtskartenständern, Stofftieren und T-Shirts, versuchten, etwas Wärme für die Abfahrt zu tanken. Wir beneideten jene, die nach dem Gipfelfoto in den klimatisierten Komfort ihrer Autos zurückkehren konnten. Für uns würde die Abfahrt alles andere als komfortabel, geschweige denn genussvoll werden.

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 Unsere Hände zitterten so stark, dass es fast unmöglich war, zu bremsen. 

Sie begann mit zwei Haarnadelkurven, gefolgt von einer langen, nach Westen führenden Rampe entlang der nördlichen Bergflanke. Nach der zweiten Kurve, in der noch Schneereste lagen, war uns die Kälte bereits bis ins Mark gekrochen. Unsere Hände zitterten so stark, dass es fast unmöglich war, den Lenker gerade zu halten oder zu bremsen. Zähneklappernd kämpften wir uns vorsichtig, ständig in Angst auszurutschen, von Kurve zu Kurve bergab und mussten immer wieder stehen bleiben, um die verkrampften und erfrorenen Arme und Finger auszuschüttlen.
Nach scheinbar endlosen 20 Minuten erreichten wir das Chalet Liotard, etwa 500 Meter unterhalb des Gipfels. Nach zwei Tassen heissen Tees zitterten wir noch immer am ganzen Leib. Wieder hinaus zu müssen, in den Regen und die Kälte, schien beinahe unvorstellbar und es kostete uns große Überwindung, den Schutz der Hütte zu verlassen.

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Obwohl es immer noch regnete, wurde es nun mit jedem Meter merklich wärmer. Bald waren wir unter der Wolkendecke, die Straße wurde trocken und endlich konnten wir die Abfahrt genießen. Unter uns breitete sich ein Teppich aus Weingärten und Lavendelfeldern im warmen Licht der Nachmittagssonne aus, der die kalte Hölle, aus der wir eben entkommen waren, unwirklich erscheinen ließ. Ab Malaucène, einem malerischen Örtchen am westlichen Fuß des Berges, führte die Straße südwärts und nach weiteren 15 Kilometern angenehmer Fahrt in der Ebene erreichten wir schließlich Bédoin und das Ende unserer Tour auf den Mont Ventoux.

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Ausrollen

Der letzte Tag führte uns nochmals zum Grand Canyon du Verdon, diesmal entlang seiner nördlichen Begrenzung, als Teilstück einer Tour, die über weite Strecken der Route Napoléon folgte. Namensgebend für letztere war der namensgleiche ehemalige Kaiser der Franzosen, der im Jahr 1815 auf seinem Weg aus dem Exil auf Elba nach Paris statt durch das Rhône-Tal über diese sehr beschwerliche und von zahlreichen Pässen geprägte Route zog.
War uns das Wetter anfangs noch hold, kündeten bald nachdem wir die Schlucht hinter uns gelassen hatten Donnerrollen und dunkle Wolken von einem nahenden Gewitter. In Castellane suchten wir gerade noch rechtzeitig in einem Bistro Unterschlupf, bevor ein gewaltiger Regenguss die Straßen in Bäche verwandelte.

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Als der Regen nach Essen und Café keine Anstalten machte, nachzulassen, blieb uns nichts anderes übrig, als unsere Fahrt fortzusetzen. Zumindest hatten wir heute Regenjacken dabei, doch gegen Blitz und Donner, der über uns wie Kanonenschüsse krachte, nützten die auch nichts. 
Dem Tal der Asse folgend, über- und unterquerte der weitere Streckenverlauf die Trasse der Pinienzapfenbahn, einer Schmalspurbahn mit Dampflokomotiven zwischen Nizza und Digne-les-Bains. Nach einem langen Anstieg verließen wir das Asse-Tal und erreichten wieder die Hochebene mit ihren endlosen Lavendelfeldern. Und während wir die letzten Kilometer zum Ausgangspunkt in Riez zurücklegten, dachte ich bei mir, dass es sicher schön wäre wieder herzukommen, wenn der Lavendel blüht ...

Informationen

Tourdaten

  • Tour 1 - Val de Quinson
  • Tour 2 - Grand Canyon du Verdon Süd
  • Tour 3 - Mont Ventoux
  • Tour 4 - Route Napoléon

Hotel
La Petite Auberge

Buch
William Fotheringham: Put me back on my bike: In search of Tom Simpson

Bikewear
Wer auf seinen Fahrten so fesch wie Georg daherkommen will, wählt Zwirn von Solo ...


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Fühlen mich an meine zwei Aufenthalte erinnert . Letzten September und vor 4 Jahren . Die Fotos bestätigen es *,ein Traum Revier .

Für mich mit Suchtfaktor .*

 

Beide Male hatte ich am Ventoux *mit ärgsten Wind zu kämpfen der mich manchmal zum absteigen zwang *,es wurde zu gefährlich .*

Im September hat mir meine Freundin mit dem Auto oben gewartet *und ich konnte mir die Abfahrt sparen *bei spitzen von 130 km ist das nicht lustig .*

 

Ansonsten habt ihr den Nagel auf den Kopf getroffen . Super Bericht *. Tolle Fotos .*IMG-20150923-WA0004-1.jpgIMAG1616.jpg

Bearbeitet von hubi
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Supertoller Bericht! Da geht das Herz auf.

Ich selbst bin bekennender Frankreich Fan, allerdings bereisen wir dieses Land immer mir Wohnmobil und Rennrad - da wird dann der Radius so richtig groß.

Schade, dass ihr am Berg der Winde nicht so besonderes Wetter hattet - bei mir hat er seinem Namen keine Ehre gemacht.

Ich hatte beste Bedingungen - Sonne, windstill und 25 Grad.

Das Bier bei der Abfahrt im Chalet Reynard war halt nicht ganz günstig ;-)

VENTOUX_PETER_2.jpg

VENTOUX_ALLE.JPG

BIER.jpg

VENTOUX_PETER.jpg

Bearbeitet von Peter D.
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mich würde sowas auch extrem reizen, aber ich versuch mein Glück vorher mal am Großglockner... mal sehen ob ich dort überhaupt raufkomme... Toller Bericht und wirklich einladend.

Der Bierpreis schockiert mich gerade gar nicht so, was letzte Woche in London und beim aktuellen Wechselkurs is da kaum ein Unterschied :du:

Danke für die Bilder, jetzt hab ihc wirklich wieder lust auf meinen Renner!

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  • 3 Wochen später...
es mag ja auch eine völlig falsche darstellung sein - aber welche erfahrung hast du gemacht ?

meine: ein freundliches "bonjour" und "au revoir" (in der landessprache zu grüßen, gebietet imho ohnehin der weltweite touristen-knigge), und dann noch zumindest "merci" und die zahlenwörter von 1-3 (weil mehr bier bestellst selten;-D), und du hast die sympathien auf deiner seite.

abgesehen davon werden die englsich-kenntnisse der (jungen) franzmänner und -frauen immer besser, was sie vermehrt auch zeigen wollen. also alles halb so wild ...

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  • 2 Wochen später...
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