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Von der Diktatur des Idealgewichts(ein bißchèn was zum schmunzel`n)


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Von der Diktatur des Idealgewichts

NZZ 24.3.00

 

Kalorienzählen, ständiges Wiegen und die permanente Untersagung zu schlemmen

 

Stellen Sie sich vor, es gibt einen neuen sensationell erfolgversprechenden Diätplan, und keiner interessiert sich dafür! Man hat sich damit angefreundet, dass Rundungen das Leben rund machen. Was würde passieren? Nichts. Jedenfalls nichts Schlimmes. Nur eine gewisse Leere könnte sich breitmachen - was tun in der Zeit, die einst vom "Abnehm-Stress" besetzt war? Sicher, ganze profitable Diät-Industriezweige würden zusammenbrechen, doch die Leute nicht. Abnehmen ist und bleibt Volkssport Nummer eins. Während von der Antike an bis in die fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts nur wirklich Übergewichtige und Fettleibige sich Schlankheitskuren unterzogen, versuchen sich darin heutzutage vor allem völlig Normalgewichtige. Die wirklich Dicken haben es meist längst aufgegeben.

 

Essens- und Gewichtskontrollzwang

 

Der Ernährungswissenschafter und Psychoanalytiker Christoph Klotter von der Technischen Universität Berlin hat sich intensiv mit der Geschichte des Abnehmens und der Diäten befasst. Für ihn ist es höchste Zeit, diesem unhaltbaren Essens- und Gewichtskontrollzwang ein Ende zu setzen. "Von ärztlicher Seite her ist es längst bewiesen, dass ein paar Kilo mehr im allgemeinen keine negativen Auswirkungen auf die Gesundheit haben." Klotter sieht in dem massenhaft kontrollierten Essverhalten einen anderen Zusammenhang. "Jede Zeit", so seine These, "hat ihre eigenen, spezifischen Untersagungen. Kreiste in den fünfziger Jahren das Denken um die Sexualität - darf ich, wann, wie oft, wie verhüte ich? -, geht es seit den neunziger Jahren ums Essen: Darf ich, wann, wie oft und wieviel, wie kann ich verhüten, dass ich dick werde? Beide Tabus haben den gleichen Hintergrund, nämlich den Körper zu disziplinieren. Sehen wir uns den Weg an, der zur sexuellen Befreiung führte, könnte dies auch der Weg sein, der uns von den Essproblemen erlöst: Aufklärung ermöglicht den Genuss."

 

Ein Blick zurück: In der Antike bereits begann die reiche Oberschicht, sich intensiv mit ihren Essgewohnheiten zu beschäftigten. Es wurden Kostpläne aufgestellt, die sich an die Wohlhabenden richteten, mit der Massgabe, besonnen zu essen. Hippokrates beispielsweise legte Richtlinien fest, welche Lebensmittel zu welcher Jahreszeit unser inneres Gleichgewicht fördern würden. Und er pochte darauf, nicht über das natürliche Sättigungsgefühl hinaus zu speisen, denn er war der Ansicht: Nur wer sich selbst mässigen kann, wird nicht tyrannisch. Damalige Gelehrte gingen davon aus, dass Männer, die sich beim Essen zügeln, sich auch politisch beherrschen könnten und überlegter handeln würden. In der Antike nahm schliesslich die Unterscheidung zwischen dicken und dünnen Landsleuten ihren Anfang. Als dick galt, wer im Krieg zu langsam, zu unbeweglich war und daneben schoss. Der Staat sorgte sich im wesentlichen nicht um die Gesundheit seiner Bürger, er trat nur auf den Plan, wenn seine militärischen Interessen bedroht waren. Über Frauen, ihre Figur und ihr Gewicht wurde zu dieser Zeit nicht gesprochen, sie spielten in der Männergesellschaft als Rechtspersonen im öffentlichen Leben keine Rolle. Da sie nicht in die Schlacht zogen, gab es für sie auch keinen diätischen Anspruch.

 

Abnehmen: qualvoll und lebensgefährlich

 

Abnehmen war immer schon nicht nur qualvoll, sondern einstmals auch lebensgefährlich. Verbreitet waren Aderlass, Seife lutschen, Tabakkauen, das Ansetzen von Blutegeln - und die Regel, man solle immer genau das essen, wovor man sich ekelt. Üblich war das Geisseln mit eng um den Bauch gebundenen Riemen oder das Tragen von dünner Kleidung im Winter, um viel Körperenergie zu verbrennen. Und es ging nicht zimperlich zu und her. Beispielsweise bei der Schweninger-Methode, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts zur Anwendung kam: "Zuerst pufft der Arzt mit der geballten Faust die Gegend der Magengrube, schwach beginnend und schliesslich die Faust so tief als möglich darin hineindrückend, wobei der Kranke sich bemühen muss, möglichst tief zu atmen. Hierauf kommt das Kneifen. Der Arzt fasst die fetten Hautdecken des Bauches zwischen seine beiden Hände und zerquetscht die Fetträubchen. Endlich springt der Arzt in ganzer Person auf den Leib des Patienten, so dass seine beiden Knie tief in die Magengrube hineindrücken."

 

Viele der Methoden waren ausserordentlich einfallsreich. So etwa die recht beliebte Coitus- Kur, welche Anfang des vorigen Jahrhunderts von französischen Autoren "erfunden" worden war und Fettleibigen im wesentlichen die häufige Ausübung des Koitus empfahl. Man ging davon aus, dass junge Leute, "die der Venus allzusehr huldigen, mager werden und dass Personen, von denen man eine geschlechtliche Abstinenz anzunehmen berechtigt ist, wie Mönche und Witwen, leicht fett werden". So die Rechtfertigung unter diätischem Vorwand.

 

Die Lüge vom angeblichen Idealgewicht

 

Empörung jedoch löste folgende Mässigungsordnung aus: Es hiess, dass "die Bürger sich jeglichen Vollsaufens 2 Jahre hindurch enthalten sollten. Während dieser Zeit darf kein Mitglied zu einer Mahlzeit mehr als 7 Ordensbecher austrinken. Täglich sollten nur 2 Mahlzeiten stattfinden, und die Becher, die etwa zur Suppe, das heisst zum Frühstück, oder als Schlaftrunk oder sonst zwischen der Zeit genossen wurden, waren von den täglich erlaubten 14 Bechern abzuziehen." Selbst weniger dogmatische Kritiker mussten einsehen - das ging zu weit, derartige Einschränkungen könne man keinem zumuten! Und schon damals klagten die ärzte, dass ihre Patienten so oft lügen würden. Unter dem Motto: Glauben Sie mir Herr Doktor, ich esse fast nichts, und trotzdem nehme ich zu.

 

Im 19. Jahrhundert dann wurden auch die Frauen dem herrschenden Körperideal unterworfen; zwar waren die Leute damals generell üppiger als heute, aber es herrschte bereits eine allgemeine Norm, wieviel die Damen auf die Waage bringen sollten. Die Diktatur oder, besser ausgedrückt, die Lüge vom angeblichen Idealgewicht begann, wie Klotter an seiner Person als Beispiel belegen kann: "Ich bin 1,76 m gross und mein Normalgewicht beträgt derzeit 76 Kilogramm. Idealerweise müsste ich 70 Kilogramm wiegen. Anfang des Jahrhunderts hätte ich nach damaliger Tabelle aber noch 90 Kilo wiegen dürfen, um als normalgewichtig zu gelten. Welchen Grund gibt es für diese Veränderung?" Mittlerweile ist es wissenschaftlich belegt, dass mit dem sogenannten Idealgewicht nicht automatisch auch die Lebenserwartung und Fitness steigt.

 

Denn das vermeintliche Idealgewicht ist keine losgelöste Grösse an sich, sondern immer vom kulturellen Wertewandel der Gesellschaft abhängig. Wurde zum Beispiel in den zwanziger Jahren gesagt, dass der Mensch nichts für seine Beleibtheit könne, dies sei genetisch vorbestimmt, galt Übergewicht in der Zeit des Faschismus als Vergehen gegen die Selbstdisziplin. Und Ende der fünfziger Jahre wiederum zeugte ein kleiner Bauch von Wohlstand und wirtschaftlichem Aufschwung. Das wandelte sich dann wieder. So gab es in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik tatsächlich den Vorschlag, eine Meldepflicht für Dicke einzuführen. Mittlerweile wurde Schlanksein zunehmend ein Symbol für Disziplin, Flexibilität und Erfolg. Das hat sich in den Köpfen immer stärker festgesetzt. Eine in den USA Mitte der achtziger Jahre durchgeführte Untersuchung hat ergeben, dass dort Manager vergleichsweise pro Kilo weniger Körpergewicht 1000 Dollar mehr im Monat verdienen. Zwar werden nun öffentlich immer mehr Stimmen gegen die Diktatur der Diäten laut, aber dieser Zwang zur perfekten Figur sitzt tief in uns, kaum jemand kann sich dem entziehen.

 

Ess-Selbstkontrolle als Lebensstruktur

 

Diäten sind ja inzwischen so etwas wie Ersatzreligionen. In einer Welt, die so chaotisch und wenig zu durchschauen und zu beeinflussen ist, erschaffen sich viele unbewusst über die Ess- Selbstkontrolle eine Struktur, die ihnen scheinbar Halt gibt. "Wünschenswert wäre eine Abkehr von dem mörderischen Kontrollzwang hin zu einer Anerkennung, dass wir alle unterschiedlich sind, auch was Figur und Gewicht betrifft", meint Klotter. Das Wesentliche wäre eine Rückkehr zum sozialen Bezug, denn wer in der Gemeinschaft froh ist, dem ist ein Kilo mehr oder weniger auf den Hüften nicht so wichtig. Und Essen sollte wieder - natürlich auch unter gesundheitlichen Aspekten - Genuss bereiten und keine Sünde sein. Derweil hat ja mit Blick auf die Ernährungstabelle für manch einen das Sahnetörtchen, das er sich unter Gewissensbissen heimlich gestattete, moralisch die Schwere eines Ehebruchs. Doch schade - oder?

 

Birgit Weidt

 

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