Pirmin Geschrieben 15. März 2021 Geschrieben 15. März 2021 Schmale oder breite Reifen - immer wieder Thema: In Testberichten der Redaktion, in Forum-Diskussionen der User. Daher bringe ich einen interessanten Artikel zu diesem Thema von E. C. W. Sandré, der vielen unbekannt sein wird. Er soll nicht nur unserer Entscheidungsfindung dienen, sondern auch den Redakteurinnen und Redakteuren des Bikeboards als leuchtendes Beispiel für die vollkommene Verschmelzung wissenschaftlicher Recherche und journalistischer Handwerkskunst dienen. Aus "Radfahr-Sport", 8. Jahrgang, Nr. 3, 19. Jänner 1900 Breite oder schmale Pneumatics? Die alte Frage, ob breite oder schmale Luftreifen vorzuziehen seien, ist, wie alljährlich zur Jahreswende, wieder actuell geworden zu einer Zeit, wo die Einkäufe wieder beginnen. Sonst wäre das Thema wohl zu abgedroschen, um es nochmals zur Discusion zu stellen. Auch ich habe dieses Thema in mehr wie einem Dutzend Sportblätter behandelt, so dass die folgenden Zeilen nur ein Resumé von mir schon Gesagtem darstellen, recte bringen können. Der Übersichtlichkeit wegen werde ich das Thema in der Weise behandeln, dass ich die Vortheile der einen Form den Vortheilen der anderen Form und ebenso die Nachtheile besprechen werde. Vor allem kann ich mich nicht dem Eindruck entziehen, als ob die schmalen Luftreifen eine Modesache wären oder richtiger gesagt, eine Modethorheit. Wer beobachten konnte, wird bemerkt haben, dass es quasi als eine Schande galt, eine breite Pueumatic zu fahren, ein solcher „Karren“ war nicht modern und nicht chic, die Mode, die Sucht, nur das allerneueste zu fahren, machte sich in gleicher Weise geltend, wie sie sich jetzt zeigt, bei Einführung des todtgeborenen Kindes des Freewheel, des Kindes mit dem hochtönenden Namen: Freilaufendes Rad. Doch nun zum Thema zurück. Die Nachteile des schmalen Luftreifens alle anzuführen, würde selbst in diesem, das Thema ausführlich behandelnden Aufsatze zu weit führen, so dass ich mich darauf beschränken muss, nur solche Nachteile anzuführen, die selbst vom Durchschnittsfahrer bemerkt und nachgeprüft werden können. Der Hauptnachtheil des schmalen Luftreifens ist, dass derselbe nicht elastisch ist, daher die durch die Unebenheit der Strasse entstehenden Stösse dem Fahrer ungeschwächt mitgetheilt werden. Abgesehen davon, dass es nur wenige Fahrer giebt, die eine stossfreie Maschine nicht lieber fahren als eine solche, die jede Unebenheit der Fahrbahn sozusagen dem Fahrenden in Gestalt eines Stosses mittheilt, bedeuten diese Stösse für den Fahrenden einen grossen K r a f t v e r l u s t, oder mit anderen Worten: Je stärker die Maschine stösst, desto schneller wird der Fahrer müde. Beweis dessen sind die vielen federnden Sattelstützen, die federnden Rahmen etc., deren Erfindung nur auf den Umstand zurückzuführen ist, dass es allgemein gefühltes Bedürfnis ist, eine möglichst stossfreie Maschine zu fahren. Der Zweck des Pneumatics war es ja, die nervenzerrüttenden Stösse des Vollgummi seligen oder unseligen Angedenkens zu vermeiden, je schmäler der Luftreifen ist, desto mehr ähnelt er dem Vollgummi. Es braucht wohl keiner Beweisführung, um die Thatsache zu erhärten, dass ein schmaler Luftreifen weniger elastisch sein muss als ein breiter, der bedeutend mehr Luft enthält. Alle jene Radfahrer, die sogenannte „Schmale“ oder sogar Renn-Pneumatic fahren, würden besser daran thun, direct Vollgummi zu fahren, dieser ist nicht minder elastisch als eine schmale Pneumatic und hat noch den Vortheil, dass eine Verletzung vollkommen ausgeschlossen ist. Je schwerer der Fahrer ist, desto breitere Luftreifen soll er fahren, will er einen Vortheil von denselben haben. Ein weiterer Nachtheil des schmalen Luftreifens ist der, dass man mit demselben selbst in schmäleren Geleisen hängen bleibt, und wie gefährlich ein durch Hängenbleiben in einem Geleise hervorgerufener Sturz werden kann, davon liesse sich ein langes trauriges Lied singen. Verfasser dieser Zeilen hat es an seinem eigenen Leibe sehr schmerzlich empfunden. Bei nassem, schläpfrigen Pflaster rutscht ein schmaler Luftreifen, dessen Berührungsfläche mit der Fahrbahn eine kleinere, respective schmälere ist, gleichfalls mehr als ein breiter. Beim Seitwärtsgleiten des Hinterrades, dem side slipping der Engländer, erfolgt fast immer ein Sturz auf die Hüfte. Ein solcher ist aber sehr gefährlich, denn kein Gelenk des menschlichen Körpers ist so empfindlich gegen Stösse oder Einwirkungen von aussen, als das Hüftgelenk. Das Kniegelenk ist zwar gleichfalls sehr empfindlich, doch ist ein reiner Sturz auf das Knie, d. h. ein Sturz, wo der durch den Sturz verursachte Stoss u n m i t t e l b a r auf das Kniegelenk (nicht das Knie als Ganzes) wirkt, eine grosse Seltenheit. Ein schmaler Luftreifen wird in allen seinen Dimensionen selbstverständlich geringer gehalten werden müssen als ein breiter, wodurch die Verletzbarkeit, sowie die Reparaturbedürftigkeit erhöht wird, oder mit anderen Worten: ein schmaler Luftreifen ist weniger haltbar als ein breiter. Dass infolge der stärkeren Stösse eine mit schmalen Luft reifen montierte Maschine leichter, respective auch schneller reparaturbedürftig wird, ist gleichfalls eine unangenehme und unerwünschte Beigabe des schmalen Luftreifens. Wer gern ein etwas schnelleres Tempo fährt, darf schon gar nicht einen schmalen Reifen benützen, den ein kleiner Stein, der auf den breiten Pneumatic gar keinen Einfluss hat, wird beim schmalen ein mehr minder starkes Verreissen des Vorderrades zur Folge haben, unter gegebenen Verhältnissen sogar einen Sturz, der umso unangenehmer sein wird, je grösser die Fahrgeschwindigkeit war. Dies wären die Hauptnachtheile des schmalen Luftreifens, denen noch viele andere beigefügt werden können, doch gebe ich mich der Hoffnung hin, dass diese angeführten Nachtheile allein dem denkenden Leser genügen werden, um ihn von der Benützung des schmalen Pneumatic abzuhalten. Und nun zu den Vortheilen des schmalen Luftreifens. Offen gestanden kenne ich nur einen Vortheil, der sich wenigstens theoretisch beweisen lässt, doch mit einem grossen Aber. Der schmale Pneumatic ist schneller. Dies ist solange richtig, als es sich um eine vollkommen ebene Fahrbahn handelt, wie solche vielleicht eine gute und tadellose Rennbahn bietet. Nun kommt das grosse Aber. Wenn es sich nicht um eine vollkommen ebene Bahn handelt, muss die Frage aufgeworfen werden, ob die durch diese Pneumatic hervor gerufenen Stösse und die durch diese bewirkte Ermüdung diese Schnelligkeit nicht aufwiegt? Wer sich darüber ein eigenes Urtheil bilden will, möge nur ein und dieselbe Strecke mit breiter und schmaler Pneumatic fahren, er wird dann constatieren müssen, dass der Kraftverbrauch beim Fahren eines schmalen Luftreifens grösser ist, als bei Benützung eines breiten. Damit ist diese Frage entschieden und zu Ungunsten des schmalen Luftreifens. Eingangs dieser kritischen Studie sagte ich: Ich würde Vortheile gegen Vortheile und Nachtheile gegen Nachtheile anführen; nach dem hier Angeführten dürfte dies aber wohl überflüssig sein und dürfte ein kurzes dedicives Resumé genügen. Breite Luftreifen sind schmalen vorzuziehen und je grösser das Gewicht des Fahrers ist, desto breiter muss der Luftreifen sein. Ob ich damit die Anhänger des schmalen Luftreifens überzeuge, ist eine Frage, deren Beantwortung in bejahendem oder verneinendem Sinne ich Anderen überlassen muss. Zitieren
feristelli Geschrieben 15. März 2021 Geschrieben 15. März 2021 Ja, anno 1900 war die "vollkommen ebene Fahrbahn" noch die große Ausnahme. Das hat sich heute zum Glück geändert Aber danke für das amüsante Zeitdokument! Wie bist du drauf gestoßen? Zitieren
riffer Geschrieben 15. März 2021 Geschrieben 15. März 2021 Ähnlich wissenschaftlich wie viele heutige Studien :devil:, aber sehr motiviert und überzeugt geschrieben. Sehr nettes Fundstück!!! Zitieren
Pirmin Geschrieben 15. März 2021 Autor Geschrieben 15. März 2021 Ja, anno 1900 war die "vollkommen ebene Fahrbahn" noch die große Ausnahme. Das hat sich heute zum Glück geändert Aber danke für das amüsante Zeitdokument! Wie bist du drauf gestoßen? Ich arbeite derzeit an einem Büchlein über die Gründung des R.C. Neulengbach, die mitten in die erste Radsportblüte im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts fällt. Da stolpere ich permanent über sehr kuriose Artikel: Großartige Tourenberichte, Rennergebnisse, deutsch-nationale Leitartikel,... Eine interessante Abendbeschäftigung! Zitieren
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