
Bildbericht In Velo Veritas 2021
17.06.21 10:18 11.7072021-06-17T10:18:00+00:00Text: NoManFotos: Renate Schwarzmüller, Michael KoflerJede Wette: Wenn die Inuit 40 und mehr Wörter für Schnee haben*, kennen die Weinviertler mindestens 100 für Wind. Und geschätzte 80 davon hat gespürt, wer heuer bei der Retro-Rundfahrt mitgestrampelt ist.17.06.21 10:18 11.7222021-06-17T10:18:00+00:00Bildbericht In Velo Veritas 2021
17.06.21 10:18 11.7222021-06-17T10:18:00+00:0015 Kommentare NoMan Renate Schwarzmüller, Michael KoflerJede Wette: Wenn die Inuit 40 und mehr Wörter für Schnee haben*, kennen die Weinviertler mindestens 100 für Wind. Und geschätzte 80 davon hat gespürt, wer heuer bei der Retro-Rundfahrt mitgestrampelt ist.17.06.21 10:18 11.7222021-06-17T10:18:00+00:00Kunsterzieher Alexander Bartl kämpft. Hobby-Läuferin Sabine Müllner-Rieder kämpft. Musiker Paul Dangl kämpft. Alle kämpfen. Sogar die Niederbayern, die als – fallweise von Defekten oder Orientierungsschwierigkeiten dezimiertes – Oktett ordentlich in die Trickkiste von Kreisel, Kante & Co. greifen können.
Die einen fighten tief über den Lenker ihres Stahlrosses gebeugt, die anderen halb hinterm Rücken eines Vordermannes versteckt. Dicker Gang und schwankender Oberkörper, wirbelnde Beine und geduckter Kopf – jeder und jede tut, was das Fahrrad kraft seiner Übersetzung und Geometrie erlaubt und die unsichtbare Wand gebietet.
Wind Nordwest, Fahrtrichtung ebenso. Mit 30, 40, 50 und mehr Kilometern pro Stunde weht die steife Brise nun schon seit den frühen Morgenstunden übers Land. Was in der ersten Streckenhälfte von in Velo Veritas nicht weiter schlimm und bisweilen sogar mehr als spaßig war, entpuppte sich ab dem Wendepunkt der Rundfahrt für klassische Fahrräder als echte Herausforderung.
Normalerweise durchmessen die drei Distanzen der Vintage-Tour das Weinviertel eher kreuz und quer denn unidirektional. Aber heuer standen mit Laa an der Thaya als Start und Ziel sowie dem Marchfeld als Spielwiese für die Langstrecke gleich zwei Premieren am Programm – zu verbinden nur durch entschlossenes Streben nach Süd und Ost … bzw. am Rückweg eben genau andersrum.
Wind ist charakterbildend
Alte RadlerweisheitDas permanente Säuseln im Ohr ist nervenaufreibend, die geringe Geschwindigkeit bei hoher Leistung zermürbend. Manche reagieren mit einem stoischen Lächeln. Manche fluchen. Wieder andere trällern einen der Ohrwürmer, den ihnen tags zuvor die Vinyl-DJs Dolce Amaro in die Gehörgänge gepflanzt haben. Gelegentlich sind auch Seufzer zu vernehmen. Erleichterte, wenn eine Hecke zumindest für ein paar Meter das Schlimmste abwehrt; verzweifelte, wenn sich zum Feind Numero eins auch noch böser Schotter oder geschmierte Anstiege oder gar beides gesellen.
Nur Daniel Ehrl scheint über den atmosphärischen Luftbewegungen zu stehen. "Wind? Welcher Wind?" meint das IVV-Urgestein lakonisch, und man ist sich nicht so sicher, ob er's ironisch meint oder nicht.
Frühschicht
Rückblende. Sonntag, 13. Juni, 05:30 Uhr, Innenhof der Laaer Burg. Noch liegt das von imposanten Wehrmauern und zweigeschossigen Wohn- und Wirtschaftstrakten umgebene Viereck im Schatten, aber an der Ostseite tasten sich die Strahlen der Sonne schon vorsichtig zu Boden. Die Blätter der mächtigen Baumkrone beim Streitturm rascheln im Wind.
An den aufgestellten Biertischen hocken vereinzelt ein paar Radfahrer mit Cafes in Pappbechern und Croissants im Mund. Um den Brunnen steht fröstelnd ein kleines Grüppchen und plaudert. Seine Mitglieder tragen Überjacken oder Gänsehaut. Ihre Gesichter sind noch müde, ihre Bewegungen auf Energiesparmodus gepolt. Die sogenannte "Epische" der In Velo Veritas wird ihnen heute schließlich noch genug abverlangen.
Auch Daniel Ehrl stellt sich soeben für das Frühstück der Langdistanzler an. Den Rücken seines gelb-weißen Wolltrikots zieren die Dreckspritzer der gestrigen Aufwärmrunde. "Aber vorne bin ich schön", pariert der Mittvierziger den entsprechend feixenden Kommentar eines Bekannten augenzwinkernd. So ein kurzes Schlammbad oder zwei werfen einen Brevet-Fahrer wie ihn nicht aus der Bahn.
Gelassen hebt der Wahl-Wiener seinen Kopf und blickt 'gen Süden, wo sich der Butterfassturm mit seiner frisch renovierten Aussichtsplattform markant gegen das Tiefblau des Himmels abhebt. "Das wird ein schöner Tag", scheinen seine zufriedenen Züge zu sagen.
Kurze Zeit später sind etliche Helden und Heldinnen der 210 Kilometer langen „Schwarzen“ schon unterwegs. Einzeln oder in kleinen Gruppen fahren sie innerhalb selbst gewählter 20-Minuten-Zeitfenster raus; so gebietet es das pandemiegerecht adaptierte Reglement.
IVV-Initiator Horst Watzl entlässt niemanden ohne persönliche Worte oder Erinnerungsfoto, wobei sein erster Blick meist den gefahrenen Untersätzen, nicht den Menschen gilt. Logisch, obliegt doch dem Erfinder der Retro-Ausfahrt heuer auch die sogenannte technische Abnahme – wenngleich er diese Aufgabe mehr mit der Begeisterung eines Kindes („Mah, is des schee! So eins hätt' i ah gern …“) denn mit der Strenge eines Ordnungshüters absolviert.
Jedenfalls: Jahrgang 1987 oder älter müssen die Räder sein, und frei von modernem Schnickschnack wie STI-Hebeln, integrierten Zügen oder Klickpedalen. Zudem ist das Mitführen von geeignetem Ersatz- und Reparaturmaterial für den nicht unwahrscheinlichen Fall einer Panne Pflicht.
Horsts „Passt, los!“ und Streckenchef Michl Mellauners „Gute Fahrt!“ im Rücken, tröpfeln mehr und mehr Vintage-Fans auf den Kurs.
Laa an der Thaya, die Thermenstadt kurz vor der tschechischen Grenze und diesjährige Gastgeberin der Veranstaltung, scheint um diese Zeit noch tief und fest zu schlafen. Völlig still liegen die Häuser und Straßen, über leere Plätze und Kreuzungen geht’s raus aus dem Ort. Die milden Strahlen der Morgensonne tauchen das Land um Laa in ein fast unwirkliches Licht. Man hört Vögel zwitschern und einen Kuckuck rufen. Und wer selbst gerade wortlos dahinrollt, dem trägt der Wind von hinten sogar das Geplauder der Nachfolgenden zu.
Gerichtete Luftbewegung in der Erdatmosphäre
Die Definition von Wind in der MeteorologieInto the great wide open ...
Die Landschaft wirkt wie gemeißelt: brettlebene Weiten, schnurgerade Linien, klar gezogene Kanten zwischen blauem Himmel und grünem Feld. Und mittendrin die Staatzer Klippe, eine Jahrmillionen alte Laune der Natur, von Menschenhand einst militärisch genutzt.
Einzeln stehende Bäume flankieren in regelmäßigen Abständen den Straßenrand. Ihre Äste und Blätter weisen mit erstaunlicher Beharrlichkeit 'gen Nordwest, wie Windsäcke, die festgefroren sind. Nur die langen Ähren der Weizen- und Gerstenacker bewegen sich stetig. Der Wind kräuselt ihre Grannen, dass man sich unvermittelt an die Schaumkronen eines Meeres erinnert fühlt. Und wie auf sturmgepeitschter See geht ein ständiges Tänzeln und Schwänzeln durch die hüfthohen Halme.
Gleichzeitig mit der ersten Steigung nimmt die Strecke auch den ersten Schotter unter die Räder - feinstkörnigen, fast pulvrigen Sand auf festem Grund. Eine Strada Biancha wie aus dem Bilderbuch entführt mit knackigem Auftakt, den etliche lieber schiebend bewältigen, in zunehmend welligere Gefilde. Kaum zu glauben, dass diese Sinfonie aus grünenden Wiesen, wogenden Feldern und (kurz sogar) lichten Wäldern unter einem schier endlosen Himmel nicht irgendeinem toskanischen Traum entsprungen sein soll!
Zeit, das alles in vollen Zügen zu genießen, bleibt nicht nur wegen des kräftig anschiebenden Rückenwindes. Denn bei In Velo Veritas gibt's keine Stoppuhr und keinen Wettkampfstress. Chip-Timing? Karenzzeiten? Konkurrenzdenken? Danke, nein.
Wohl dünkt es ratsam, die Sperrstunden der Laben und den offiziellen Zielschluss um 19:00 Uhr im Auge zu behalten. Aber letzterer ist selbst mit einer "inoffiziellen Weinverkostung" in einer Kellergasse zu schaffen, wie die fröhliche Truppe, die heuer am Galgenberg hängen geblieben ist, bestätigen kann. Die einzige Uhr, die demzufolge wirklich tickt, ist die innere. Auf sie gilt es, allzeit zu hören. Also: Habt ihr auch wirklich genug gegessen bei der Labe? Reicht die Übersetzung, oder gehen wir diesen Stich da lieber zu Fuß? Ist's schon Zeit für einen weißen Spritzer? Schau, wie schön, das Bankerl da! Na dann, hock dich her!
Anziehend wirkt dieses Konzept auf die verschiedensten Leute: Versierte Sammler und Zangler, die das Wochenende zum Austausch mit Gleichgesinnten und Ausführen ihrer Prunkstücke nutzen. Motivierte Neueinsteiger, die altes Technikwissen aufsaugen und den angeschlossenen Flohmarkt aufkaufen wollen. Trainierte Styler, die ihren Spaß daran haben, sich in die Wolle von früher oder Leoparden- und Blümchenmuster von heute zu werfen. Bekennende Retro-Fans, die in der Weinviertler Rundfahrt den Spirit vergangener Tage suchen und finden. Oder auch bis dato völlig Unbedarfte, die - von Freunden und Freundinnen mitgerissen - hier in Ruhe und bemerkenswert angenehmer Gesellschaft ihren ersten Radsport-Event erleben.
Und so reichte das Spektrum 2021 vom langstreckengeeichten Eisenschweinkader aus Berlin bis zur normal nie - nun aber gleich auf der Epischen - radelnden Katrin Smolak aus Poysdorf; von der 13-jährigen und somit jüngsten Teilnehmerin Phoebe Blau bis zum 84-jährigen, mithin ältesten, Starter Karl Schweighofer.
Auch ehemalige Profis und Radsportgrößen mischen sich alle Jahre wieder unter die fröhlich-bunt gekleidete Teilnehmerschar. Heuer z.B. erstmals Andreas Langl, einer der frühesten Österreich-Legionäre in Frankreich. Der Olympia-Teilnehmer von 1992 hat für seine IVV-Premiere ein originales LRV-Trikot mit fett prangendem OÖ-Wappen gewählt. Ruhmreicher als dieses war da wohl nur noch das gelbe Trikot des Österreich Rundfahrtssiegers von 1981, Gerhard Zadrobilek. Derselbe feiert übrigens in wenigen Tagen seinen 60. Geburtstag und steigt 40 Jahre nach seinem bis heute legendären und auch nach wie vor gültigen Coup (jüngster Gesamtsieger ever) eigentlich nur mehr einmal im Jahr aufs Rennrad, ansonsten ausschließlich Mountainbike: dann nämlich, wenn In Velo Veritas ruft ...
I hob in Kalender gschaut, heit geht da Wind
AttwengerSie alle und noch ein paar Hundert mehr ließen sich also den ganzen Vormittag über fast mühelos südostwärts treiben. Die festplatzartige Poysdorfer Gstetten, das heimelige Museumsdorf Niedersulz, das vor barockem Ambiente gelegene Storchenhaus Marchegg … die Tempel der für In Velo Veritas so typischen gepflegten Einkehr und geruhsamen Rast waren schneller erreicht, als die zugehörigen Durchschnittsgeschwindigkeitsrekorde berechnet.
Was freilich niemanden davon abhielt, sich trotzdem jedesmal ausgiebig gütlich zu tun. Wär' doch eine Schande, wenn von den Suppen und belegten Broten, Sursemmeln und Obstkuchen, Schweinsbraten und Spinatstrudeln, Wurzelgemüsen und Salaten, Traubensäften und Malzgetränken (übrigens: das Hubertus Bräu kommt aus Laa ...) auch nur ein Bröserl oder Schluckerl übrig bliebe!
Und dann? Dann folgte der lange Weg zurück. Denn falls es noch nicht hinlänglich erwähnt wurde: Am Tag der In Velo Veritas 2021 blies ein ziemlich starker Wind.
Mehr Wahrheit, weniger Wein
Daniel Ehrl dürfte ihn tatsächlich nicht gespürt haben. "Ziemlich tiefer Schotter", antwortet er auf die Frage nach seinen Streckeneindrücken. Und unrecht hat er damit ja nicht. Nicht zuletzt deshalb wohl auch ziemlich viele Defekte - die allerdings in bester IVV-Manier zumeist gemeinschaftlich behoben wurden. Und: ziemlich giftige Stiche, die das ohnehin beschwerliche Vorwärtskommen zwar nicht oft, dafür aber umso nachhaltiger erschwerten.
Der Vorteil dieser Topografie: Im Flachland genügt schon der kleinste Hügel, damit der Blick weit wird und frei. Mitunter reicht sogar eine Autobahnbrücke.
Da und dort schlug ein Hase Haken, während ein Bussard - oder war´s ein Milan - spähend seine Kreise zog. Die Kirschen schickten sich, rosig-rund, an zu reifen. Und allenthalben gut gelaunte, schwitzende und schnaufende Radlerinnen und Radler, die sämtliche Eindrücke aufsaugten wie ausgetrocknete Schwämme nach der überlangen Abstinenz.
Etliche Fischteiche und Pferdekoppeln, Solaranlagen und Ölpumpen, Industriebauten und Kreisverkehre, Autobahnunter- und -überführungen später konzentrierte sich die niederösterreichischen Leistungsschau zunehmend auf die Windenergie. Reinmontiert wie Teletubbies zierten mehr und mehr Windräder das sanft gewellte Hanniland und winkten mit ihren riesigen Flügeln hinter den rapsgelb und weizengrün und klatschmohnrot gefärbten Hügeln hervor.
Auf die erste, echte Kellergasse hieß es hingegen heuer etwas länger warten. Tatsächlich dauerte es bis Poysdorf, dass der Wein nicht bloß namentlich, sondern auch optisch die Regie übernahm - dafür aber mit aller Macht und Kitschigkeit: Kopfsteinpflaster, Rebstöcke, dicht gedrängte Presshäuser, weiß gekalkt und liebevoll renoviert.
"Von Kilometer 107 bis 170 habe ich echt gedacht, ich schaff's nicht", gesteht Thomas Geiger. Das entspricht ziemlich genau dem Weg vom entlegendsten Punkt der Strecke, Marchegg, bis zur Poysdorfer Kellergstetten - der fürstlich und vom Frühstück über Brunch und Mittagessen bis zum Lunch wechselnd ausgestatteten Labstation, an der er heute vor vielen Stunden schon einmal war. Aber nun riecht der Nürnberger den Stall. Gemeinsam mit seinem Kumpel Rainer von Lennep, der den Stahlrad-Novizen mit seiner Sammlerleidenschaft und mehrfachen Teilnahme an den Eroicas dieser Welt zur Reise ins Weinviertel animiert hat, stellt er sich noch einmal in den Wind.
Die beiden kennen Österreich von diversen Marathon-Klassikern: Ötztaler, Dolomitenrundfahrt, Highlander ... erst letzte Woche waren sie am Stilfser Joch. Doch der heutige Tag im flachen Osten hat sie wirklich Körner gekostet. Aus ihren Gesichtern spricht die pure Erleichterung, als ihnen Streckenchef Michl Mellauner ausgerechnet am Galgenberg das Ende allen Leidens verspricht: "Nur mehr ein kurzes Stückchen Gegenwind, der Rest seitlich, keine Berge mehr."
Hand drauf, Stempel drauf. Nun ist das Ziel zum Greifen nah.
Brise, Hauch, Lüftchen, Zug, Bö, Föhn, Strömung, Stoß, Hose, Sturm, Orkan ...
Viele mehr oder weniger schöne Worte für ein - je nach Richtung und Stärke - (un)schönes Phänomen*By the way: Die eingangs erwähnte Mär' von der besonders reich ausgeprägten Schneeterminologie der Eskimosprachen ist natürlich längst als Ignoranz linguistischer Grundprinzipien entlarvt.
Spätschicht
Sonntag, 13. Juni, 18:00 Uhr, Innenhof der Laaer Burg. Es sind noch längst nicht alle Helden von der Langstrecke retour und erst eine Heldin. Zwei weitere der fünf gestarteten befinden sich kurz vor Kirchstetten und werden in etwa einer Stunde von ihrem Fanclub im Ziel erwartet. Auch von der Mitteldistanz trudeln noch immer Finisher ein, ihre wohlverdiente Flasche Weinviertel DAC im Trikot und die Urkunde, welche sie als erfolgreiche IVV-Bezwinger ausweist, unterm Arm.
Daniel Ehrl steht wieder in der kurzen Schlange vor dem Gastro-Zelt, um sich noch Kuchen und Saft zu holen. Gestern Aufwärmrunde im Dreck, heute die Epische, und nun packt der alljährlich am Start stehende Architekt und Fahrradsammler noch mal 70 Kilometer drauf und fährt gemeinsam mit Niko Mellauner von Laa zurück nach Wien. "Der Wind bläst so günstig", meint er trocken und zahlt.
Frühschicht |
Into the great wide open ... |
Mehr Wahrheit, weniger Wein |
Spätschicht |
Weiterführende Links |
Kommentare |