Bildbericht In Velo Veritas 2023

Der Mensch hat immer schon große Träume gehabt. Visionen. Getrieben hat es ihn – weg von dem, was er schon kennt. Neues entdecken, Fremdes. Das Unbekannte. Weite Strecken, große Entfernungen wollte er überwinden. Mobil wollte er sein. Immer weiterkommen.
Die Welt erobern.

Wie wir aus eigener Kraft weiterkommen, das haben wir dabei ziemlich vergessen. Wie es ist, selber, aus eigener Kraft weiterzukommen. Das ist dabei auf der Strecke geblieben. Die wirkliche Freiheit, die Unabhängigkeit.
Aber pass’ auf, da gibt’s was, das immer noch gilt: Ein Rahmen aus Stahl, zwei Räder, und deine zwei Füße. Mehr brauchst du nicht für die Freiheit*.

*Gekürztes Intro aus „In Velo Veritas – der Film“

Zum Beispiel Christoph Sanders alias Crispinus aus Dresden. Der Mann ist mit dem Fahrrad angereist – nicht zum ersten Mal, wie ich mich zu erinnern meine. (Oder verwechsle ich ihn da mit Tino Knauth aus Berlin, ebenfalls IVV-Stammgast und gemeinsam mit weiteren Kumpels vom dortigen Eisenschweinkader auch schon aus gänzlich eigener Kraft hergefahren? Egal.)
Gute 500 Kilometer, verteilt auf Freitag und Samstag. Und am Sonntag als Draufgabe die epische Runde der Ausfahrt auf klassischen Rennrädern mit heuer 209 Kilometern und 2.700 Höhenmetern. Warum? „Die Eindrücke sind tiefer“, so der Retro-Randonneur.
Distanzen wie die Langstrecke der In Velo Veritas, die soeben zum elften Mal durchs Weinviertel getourt ist, nimmt der Deutsche normalerweise zum Frühstück. Denn seit er sich vor über einem Jahrzehnt entschlossen hat, an Paris-Brest-Paris teilzunehmen, lässt ihn das Weitradeln nicht mehr los.

Als Vorbild für In Velo Veritas wird üblicherweise l’Eroica genannt – die erste, mittlerweile weltweit erfolgreiche Retro-Ausfahrt im italienischen Gaiole in Chianti, mit der die Renaissance der Klassik ab 1997 Fahrt aufnahm. Und das stimmt ja auch, was ihre unmittelbare Entstehungsgeschichte betrifft.
Aber selbst der legendäre Trendsetter erweist bei seiner Fahrt über die berühmten „strade bianche“ ja nur älteren Vorreitern die Reverenz. Wettkämpfen, für deren Bewältigung es angesichts der damaligen Infrastruktur, Streckenverhältnisse, Ernährungsgewohnheiten oder Bekleidungsstandards schon ein gerüttelt Maß Courage, Wahnsinn und Leidensfähigkeit brauchte – vom Stand der Fahrradtechnik ganz zu schweigen: Den ersten Ausgaben von Tour de France, Giro d’Italia oder, etwas später, Vuelta a Espana; den frühen Eintagesrennen wie Paris-Roubaix, Mailand-Sanremo oder Flandern-Rundfahrt; den brutal langen Prüfungen im Stile der anfänglichen Sechstagerennen (tatsächlich solo und pausenlos) oder der End-to-End-Tour in Großbritannien (1.440 km).

Das Streckenpensum der Weinviertel-Rundfahrt gibt sich im Vergleich dazu relativ zahm. Man will den Funken der Begeisterung ja möglichst weitertragen, und nicht nur in einem kleinen Kreis konditionell Privilegierter reihum reichen.
Zur Wahl stehen neben der schon erwähnten „Epischen“ noch anspruchsvolle 140 und genussreiche 70 Kilometer – welche im Übrigen nie gleich, höchstens abschnittsweise ähnlich verlaufen. Denn die In Velo Veritas wechselt ihren Start- und Zielort jedes Jahr. Heuer erstmals am Programm: Die Bezirkshauptstadt Mistelbach ganz im Nordosten Niederösterreichs.

Vom dortigen Stadtsaal ging's also los, Wetterprognose perfekt, Frühstück reichlich. Und was sich schon am Vortrag zwischen Flohmarktständen, Aufwärmrunde, geschmortem Wildschweinrücken und feinstem Vinyl-Sound von DJ Moneypenny unter der beeindruckenden, über 120 Jahre alten Blutbuche am Vorplatz des Veranstaltungszentrums angekündigt hatte, wurde wahr: 900 Aktive, neuer Teilnehmerrekord!

Das nimmt insofern Wunder, als das Regelwerk von In Velo Veritas, anders als z.B. jenes von Paris-Brest-Paris, eine wesentliche Einschränkung kennt. Bei der 122 Jahre jüngeren IVV ist ausschließlich älteres Material erlaubt. Rennräder des Jahrgangs 1987 abwärts bzw. authentische Nachbauten müssen es laut Ausschreibung sein.
Natürlich hat das seinen Grund. In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre läutete nämlich eine Reihe von Erfindungen - indexierte Schalthebel, bei denen jeder Gang einrastet, Klickpedale, die deutlich mehr Halt und Zugkraft brachten und schließlich Bremsschalthebel, welche den mühsamen Griff ans Unterrohr zum Gangwechseln erübrigten - die Neuzeit des Rennradsports ein. Und die will eine Vintage-Ausfahrt, welche vergangenen Zeiten, Stilen und Tugenden huldigt, naturgemäß ausbremsen.

Christoph Sanders fährt so gut wie immer mit derlei Material - sogar bei Paris-Brest-Paris. Es spricht ja auch überhaupt nichts dagegen, so leichtfüßig, wie nicht wenige dieser Fabrikate um die Kurven flitzen, so hart im Nehmen die vermeintlich überholten Materialien sind und so problemlos, wie kundige Mechaniker an den Labstationen die Dinger wieder flott kriegen, wenn's dann doch mal etwas hat.
Aber dem Gros des IVV-Pelotons war die mangelnde Routine im Umgang mit den klassischen Schönheiten anzumerken. Auch mich outete das Scharren des metallenen Pedalkäfigs am Boden als Dilettantin vor der Riemchenkonstruktion. Blasen an meinen Fingern verrieten ab Kilometer 80, dass ich für gewöhnlich bequemer geformte Lenker in Händen halte und deutlich weniger Kraft fürs Bremsen aufwende. Vor allem aber signalisierten mir meine Beine vom Start weg, dass ich nicht mehr genug Heldin für eine Heldenkurbel bin.

Da stellte sich uns nämlich völlig ungeniert sogleich eine Wand entgegen, direttissima hinauf ins Weinbaugebiet. Und nach fünf Kilometern prompt die nächste, nochmal etwas steilere. Gefühlt waren nach etwa 30 Minuten Fahrzeit die Hälfte der anliegenden 1.600 Höhenmeter absolviert.
Aber welch fantastische Weitblicke, welch fast schon surreal modellierte Landschaften, welch intensive Farbspiele hinter diesem unvermittelten Auftakt lagen! Links die Weinreben und rechts die Gerstenfelder oder umgekehrt, oben der blaue Himmel, unten der tiefrote Klatschmohn, rundherum aufgrund des wohltemperierten Frühsommers alles ein, zwei Wochen grüner als sonst.
Später Raps traf auf frühe Kirschen, schneller Feldhase auf eleganten Milan, monumentale Windräder auf kühn gespannten Strom.

Und als sich kurz nach Kilometer zwölf schon die erste Kellergasse zeigte, schien alles gesagt und gesehen. Dabei holte dort das Weinviertel erst so richtig Schwung, schaukelte sich hoch und schwappte auf und nieder, ebbte ab und bäumte sich erneut auf.
Hohlwege, Feldwege, Radwege, Waldwege. Kolonnade mit Schlossblick, Fotospot mit Burgblick, Kalkebene mit Klippenblick. Marterberg, Galgenberg, Buschberg. Tannauwald, Leiser Wald, Schilderwald. Wo, bitte, geht's zum Klo?

Fast schon überfordert von diesem Staccato an Herrlichkeiten sank ich bei den Laben nieder. Ob die früheste Generation von Radsportlern im ausklingenden 19. Jahrhundert auch nur ansatzweise ahnen konnte, welch Freude und Lust es Menschen 130 Jahre später bereiten würde, auf ihren Spuren zu wandeln?
Wobei: „Auf ihren Spuren“, das ist fast schon Blasphemie. Wir haben Freiläufe, pipifeine. Wir haben Bremsen, wenn auch schwachbrüstige, und Schaltungen, obgleich schwergängige. Wir haben Luftreifen, zumeist dichte, und heimlich vielleicht doch ein neumodernes Regenjäckchen eingesteckt. Die ersten Helden der Landstraßen – Heldinnen blieben weitgehend ausgeschlossen – hatten nichts von alledem.

Als sich die 117 Teilnehmer der Distanzfahrt Wien-Berlin am 29. Juni 1893 in Floridsdorf zur Startaufstellung einfanden, waren ein starr mit der Hinterradnabe verbundenes Ritzel (somit nur ein Gang und ständiges Mittreten), abenteuerlich nach hinten gebogene Lenker, Pluderhosen und riesige Öllampen state of the art. Der gerade erst auf den Markt gekommene Dunlop-Reifen befand sich vermutlich noch nicht auf jedermanns Rad.
Kein Wunder also, dass den wackeren „Herrenfahrern“, aka Amateuren, mit ihren holprigen Vollgummireifen die hierzulande schlechten, „nicht chaussierten“ Straßen besonders sauer aufstießen. Weiters kämpften sie mit Wetterkapriolen. Zwei heftige Gewitter machten den teils völlig unzulänglich Ausgerüsteten das Leben schwer.

Das Sportereignis, das bei Start wie Ziel von tausenden Zuschauern verfolgt und von einem tagelangen Festprogramm - Wettfahrten, Empfänge, Korsos, Stadtbesichtigung - umrahmt wurde, gilt als Geburtsstunde des Radrennsports in Deutschland und Österreich sowie Auslöser eines wahren Fahrradbooms. Sein primärer Zweck war es allerdings, die Leistungsfähigkeit und Haltbarkeit des damals noch jungen Produkts Fahrrad unter Beweis zu stellen.
Vorausgegangen war der 583 Kilometer langen Distanzfahrt ein ebensolcher Ritt von Offizieren des deutschen und österreichisch-ungarischen Heeres. Pferde und Räder konkurrierten zu der Zeit um den Titel des besseren, individuellen Transportmittels, sportliche Vergleiche zwischen Radfahrern und Reitern fanden deshalb regelmäßig statt. Vom Distanzritt im Herbst 1892 wurden die Stahlrösser jedoch ferngehalten. Die Armeen befürchteten wohl eine Blöße ihrer Kavallerien.
Zu Recht. Der schnellste Reiter benötigte für die Strecke 71 Stunden und 40 Minuten. Der legendäre Josef Fischer, Sieger der Radfahrt, erreichte Berlin, wo das Radfahren damals übrigens generell verboten war und als exaltiertes Hobby von Wohlhabenden galt, nach 31:00:22,4 Stunden. Binnen einer Woche verendeten 30 der 250 verwendeten Pferde, darunter auch jene der Gewinner. Von den angetretenen Radfahrern sind derartige Spätfolgen nicht bekannt. Und das trotz grausam anmutender Verpflegung wie z.B. "einen Becher Milch mit Kognak" für den Drittplatzierten Franz Gerger.

Zurück in die Neuzeit, denn hier wartete das pure Glück. Tief hingen die Zweige der riesigen Weiden über den Uferbereich des Katzelsdorfer Teiches und spendeten Schatten. Angenehm plätscherten die Gespräche an den Tischen. Still ruhte der See.
Pausieren und Genießen gehört zur In Velo Veritas wie Treten, Bremsen und Lenken. Und das Innehalten wird einem ja auch wirklich leicht gemacht!

In Katzelsdorf kredenzte der Dorfwirt Bauer aus Bernhardstal unter tatkräftiger Hilfe der örtlichen Feuerwehr ein Frühstücksbuffet, dass manch Vierstern-Hotel sich ein Scheibchen abschneiden könnte. Und switchte zu späterer Stunde um auf Hausmannskost, die auch die müdesten Beine wiederbelebte: Henderl gebacken oder gegrillt, Rindsgulasch, Kaspressknödel, Blunzengröstl sogar.
Drüben in Staatz bewiesen die guten Seelen des Veranstaltungszentrums, dass Wurstsalat nicht gleich Wurstsalat ist und Kichererbsencurry, wenn gut gemacht, sogar den leider schon aufgegessenen Kaiserschmarrn würdig ersetzen kann. Spektakulär direkt am Fuß der Staatzer Klippe vor dem liebevoll renovierten Schüttkasten des Schlosses positioniert, schenkten uns hie die Erzeuger höchstpersönlich Apfelsaft, Traubensaft und herrlichen Kaiserspritzer aus; da gab's wiederum süffiges "Helles Grad", direkt aus Siebenhirten bei Mistelbach.
Harrys Schmankerlexpress im barocken Schüttkasten in Klement schließlich sorgte zum genau richtigen Zeitpunkt für eine rettende Jause, pikant oder süß: feinster Nudelsalat, frische Erdbeeren, Kaffee und Kuchen - mmmhhhh!
Wer wollte, wer könnte angesichts solcher Köstlichkeiten geradewegs weiterziehen?

Irgendwann musste es dann aber doch sein. Und die Belohnung fürs Aufraffen folgte stehenden Fußes. Denn ich traf Fritz Frauenschuh.
Schon zu einem früheren Zeitpunkt ist mir der braungebrannte, weißhaarige Senior aufgefallen. Mit Schartner Bombe-Aufklebern auf seinem etwas verlebten Peugeot Jahrgang 1965 hatte er sich, offensichtlich viel zu klein übersetzt, eine Rampe hinaufgekämpft, bis es wirklich nicht mehr ging. Die Körperhaltung wies ihn als alten Haudegen aus, die Muskeln unter seiner schon deutlich erschlaffenden Haut als immer noch sehr fit.
Und tatsächlich: 82 Jahre ist der Mondseer jung, mithin der älteste Teilnehmer der diesjährigen In Velo Veritas. Und er hat sich etwas vorgenommen: "Dass ich in der Pension überall dort fahre, wo ich mit dem Auto nie hinkommen würde."

Wir kamen ins Gespräch, er sprühend vor Energie, ich neugierig und fasziniert. Die 60er-Jahre im legendären Schartner-Bombe-Rennteam waren seine sportliche Glanzzeit. Bis zur Österreich-Rundfahrt hat es zwar nie gereicht, aber an guten Tagen gab er für die Brüder Ludwig und Rudolf Kretz, Roman Humenberger, Rolf Eberl & Co. den Edeldomestiken. "Schuh" hätten sie ihn genannt, "weil Frauenschuh war ihnen zu lang", schmunzelte der ehemalige Bäcker. Sein schönster Erfolg? Ein zehnter Platz bei der Bergmeisterschaft, "obwohl alle da waren."